Sehr geehrter Herr Präsident Schröcksnadel,
Ich habe die Schilderungen der Ex-Skirennläuferin Nicola Werdenigg im Standard gelesen und ich habe ihr mit großer Betroffenheit – wie Hunderttausende auch – in der ZiB2 zugehört. Da saß keine Frau, die es sich leicht gemacht hat. Da saß keine Frau, die prahlen, die zurück ins Rampenlicht wollte. Da saß eine Frau, die spürbar aufgewühlt, spürbar verletzt über Ereignisse in ihrem jungen Sportlerinnenleben in den 1970er Jahren berichtete.
Sie sprach über sexualisierte Gewalt, über bizarre Rituale wie „das Einreiben der Genitalien mit Schuhpasta“, und sie sprach von einer Vergewaltigung durch einen Mannschaftskollegen, als sie 16 Jahre alt war. Das alles soll in der Obhut – und vieles auch mit Duldung der damals Verantwortlichen – des heimischen Skiverbandes geschehen sein.
Der TV-Auftritt vor über 600.000 Zuschauern muss sie enorme Kraft und Überwindung gekostet haben – sie hat sichtlich jedes einzelne Wort abgewogen. Und auch auf beharrliches Nachfragen hat sie keine Namen genannt.
Nun haben Sie, Herr Präsident, das einzig Falsche gemacht: Sie haben Nicola Werdenigg aufgefordert, Namen zu nennen, ihr ein Ultimatum gestellt und drohen einer Frau, die massive Übergriffe erlitten hat, mit dem Anwalt. Eine Reaktion, als wäre die Zeit in den 1970ern stehen geblieben.
Nicola Werdenigg hingegen hat das einzig Richtige getan: Sie hat Missstände aufgezeigt, sie hat menschenverachtende Rituale und sexualisierte Machdemonstration benannt. Und sie hat dies – mit vollstem Recht – zu einem selbstgewählten Zeitpunkt getan.
Nicola Werdenigg ist es ganz offensichtlich nicht um späte Rache gegangen – das verstehen manche alte, mächtige Männer vielleicht nicht, weil sie gerne in solch archaischen Denkmustern wie Rache oder Verrat verharren. Werdenigg wollte etwas benennen, was sich durch viele Organisationen zieht, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten: Die Vermischung von Erziehung, Macht und Sexualität.
Nun, Sie hätten in den Tagen nach Werdeniggs Erzählungen mit der Weisheit eines alten Mannes reagieren und Mitgefühl zeigen können.
Stattdessen folgt der Klassiker: Die Täter-Opfer-Umkehr.
Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass die von Ihnen geforderte Namensnennung heute zu einer sinnvollen Aufarbeitung dieser Missstände von damals beitragen würde? Jede Namensnennung würde unweigerlich zum nächsten Drama führen. Die mutmaßlichen Täter würden selbstverständlich alles abstreiten – Sie nehmen doch nicht wirklich an, dass nur ein einziger heute öffentlich einen konkreten Übergriff zugeben und sich reuig geben würde?
Das wissen Sie natürlich alles ganz genau. Daher sind Ihr Ultimatum und die Drohung mit einer Rufschädigungsklage perfide und unerträglich.
Was Sie, und leider auch viele andere alte Männer, nicht verstehen wollen oder können: Oft geht es im Leben nicht um Rache, sondern einfach um den Wunsch und die Hoffnung, niemand anderer möge das erleiden müssen, was man selbst erlitten hat.
Der Pranger wurde längst abgeschafft. Hier geht es, 40 Jahre danach, nicht mehr um Namen, hier geht es um Rituale und Übergriffe, die im Österreichischen Skiverband nie wieder vorkommen dürfen. Und es geht um Einsicht, dass das, was damals passiert ist, nicht einfach „eine andere Zeit“ war, sondern auch damals schon Unrecht.
Nicola Werdenigg will keine Rache, sie will Schutz und Respekt für alle, die jetzt vom Österreichischen Skiverband abhängig sind. Dafür sind Sie zuständig, Herr Präsident!
Mit freundlichen Grüßen,
Euke Frank, Chefredakteurin WOMAN